Gesunde Führung beginnt im HR
Wie HR gesunde Führung stärkt und Burnout vorbeugt
Führungskräfte tragen viel Verantwortung – oft bis an ihre Grenzen. Im Interview mit Leadership Coach Corinne Steiner erfährst du, wie Personalverantwortliche gesunde Führung stärken, Überlastung früh erkennen und Burnout - Risiken senken können.
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Gesunde Führung ist mehr als ein Schlagwort – sie entscheidet darüber, wie wirksam, achtsam und nachhaltig Mitarbeitende handeln können. Im Gespräch mit Leadership Coach Corinne Steiner wird klar, welche Rolle HR dabei spielt und woran man erkennt, wenn Belastung zu viel wird. Denn oft zeigen sich Überforderung und Erschöpfung erst subtil – lange bevor eine Führungskraft wirklich an ihre Grenzen kommt.

Woran ist erkennbar, dass Führungskräfte an ihre Grenzen kommen?

Corinne: Grenzen zeigen sich selten laut. Sie äussern sich in kleinen Veränderungen, in der Sprache, im Verhalten oder in der Art, wie jemand reagiert. Viele Führungskräfte funktionieren nach aussen perfekt, bis sie innerlich aus der Balance geraten.

Führungskräfte stehen oft zwischen den Erwartungen des Unternehmens, den Bedürfnissen des Teams und dem eigenen Anspruch. Besonders in sogenannten Sandwich-Positionen ist das Spannungsfeld und damit dieser Druck der Erwartungen gross. 

HR-Verantwortliche erkennen erste Signale, wenn sie aufmerksam zuhören und hinsehen: Gereiztheit, Rückzug, übertriebene Kontrolle oder auffällige Ruhe sind typische Hinweise. Auch Konflikte oder Unruhe im Team sind oft Spiegel der Überlastung einer Führungskraft.

“Das, was wir an einer Führungskraft beobachten, erzählt immer auch etwas über das System, in dem sie wirkt.”

Denn Verhalten entsteht nie im luftleeren Raum: Es ist sowohl Ausdruck der individuellen Belastung als auch der Strukturen, Dynamiken und Erwartungen im Umfeld. Wer beides sieht, Mensch und System, erkennt Zusammenhänge früher und kann nachhaltiger unterstützen.

Was empfiehlst du dann?

Corinne: Wenn HR Hinweise wahrnimmt, dass eine Führungskraft stark belastet ist oder ihr Verhalten sich verändert, geht es im ersten Schritt darum zu verstehen, was hinter diesen Signalen steht und wo der Ursprung liegt. 

Belastung kann auf verschiedenen Ebenen entstehen: in der Person selbst, in ihrer Rolle oder im Umfeld, in dem sie wirkt. Hilfreich ist, diese Ebenen gemeinsam zu betrachten. Manchmal braucht die Führungskraft Raum für Reflexion oder Entlastung, manchmal braucht das System Anpassung und Klärung. HR kann hier Brücken schlagen, zwischen persönlicher Wahrnehmung und strukturellen Bedingungen.

Ein Modell, das dabei Orientierung bietet, ist der Circle of Influence von Stephen Covey. Er unterscheidet zwischen dem, worauf Menschen direkten Einfluss haben, dem, worauf sie nur begrenzt Einfluss nehmen können, und dem, was ausserhalb ihrer Kontrolle liegt. Gerade in komplexen Organisationen hilft dieses Bewusstsein, Energie auf das zu lenken, was gestaltbar ist und loszulassen, was ausserhalb des eigenen Wirkungsbereichs liegt. Diese Klarheit wirkt oft unmittelbar entlastend.

Stephen Covey’s Circle of Influence¹

Es geht also darum, das Gespräch mit der Führungskraft zu suchen. 

Wichtig ist dabei, das Gespräch offen und respektvoll zu führen. Die Frage «Ist alles in Ordnung?» bleibt meist an der Oberfläche, denn sie lädt zu einem schnellen «Ja, passt schon. Alles OK.» ein. 

Besser ist eine konkrete, beobachtungsbezogene Ansprache, etwa: 
«Mir ist aufgefallen, dass die Situation im Team momentan sehr anspruchsvoll ist. Wie kann ich dich in deiner Rolle unterstützen?» So bleibt das Gespräch auf Augenhöhe und öffnet Raum, ohne Druck auszuüben. 

Trotzdem gilt: Unterstützung setzt immer Bereitschaft voraus. Wenn eine Führungskraft nicht bereit ist, Verantwortung für sich zu übernehmen oder Hilfe anzunehmen, kann HR zwar handeln, zielführend ist das jedoch selten. Hier zeigt sich der Unterschied zwischen gut gemeinter Fürsorge und professioneller Verantwortungsklärung: nicht übernehmen, sondern bewusst zurückgeben.

«Ich sehe, dass dich die Situation stark fordert. Es liegt in deiner Verantwortung, gut für dich und dein Team zu sorgen. Wir können dich unterstützen, aber nicht an deiner Stelle handeln.» 

Bleibt die Situation bestehen, kann HR aufzeigen, welche Folgen das hat, etwa auf Teamdynamik, Zusammenarbeit, Gesundheit oder die eigene Vorbildfunktion. So entsteht Transparenz über Konsequenzen, ohne Schuld zu verteilen. 

Es darf durchaus Druck entstehen, allerdings nicht als Machtmittel, sondern als natürliche Folge von Bewusstheit und Verantwortung.

Was bedeutet für dich „gesunde Führung“?

Und wie kann HR helfen, diese Haltung zu verankern?

Corinne: Gesunde Führung bedeutet, Verantwortung bewusst zu gestalten, für sich selbst, für andere und für das System, in dem man wirkt. Sie lebt von klarer Kommunikation, vom bewussten Umgang mit Verantwortung und Grenzen sowie von einer achtsamen Gestaltung von Beziehungen. 

Gesunde Führung schafft eine Kultur, in der Menschen sich sicher fühlen, Verantwortung übernehmen und in einer offenen, vertrauensvollen Zusammenarbeit wirksam handeln, wo Leistung aus Stimmigkeit entsteht, nicht aus Druck. Der Mensch steht vor der Aufgabe, nicht hinter ihr. 


Im Kern geht es um Bewusstsein und Verantwortung, für sich selbst, füreinander und für das System, in dem man wirkt. Diese Haltung zeigt sich besonders bei jenen, die Verantwortung tragen: 

“Eine gesunde Führungskraft kennt ihre Grenzen und weiss, was ihr guttut. Sie achtet auf Signale, bei sich und bei anderen und reagiert, bevor Überforderung oder Erschöpfung entsteht. Denn nur wer sich selbst gesund führt, kann andere gesund führen.”

Für HR bedeutet das, gesunde Führung als Teil der Unternehmenskultur zu verankern, durch Bewusstseinsarbeit, klare Werteorientierung und Rahmenbedingungen, die gesunde Führung zulassen und fördern. Damit schaffen Personalverantwortliche die Basis, auf der Führungskräfte Verantwortung bewusst, wirksam und menschlich leben können. Gesunde Führung ist keine Methode, sondern eine Haltung, sichtbar im Alltag, in Entscheidungen und im Umgang mit Menschen. Sie lebt dort, wo Selbstverantwortung, Achtsamkeit und Wirksamkeit im Gleichgewicht sind.

Wie kann HR Führungskräfte dabei unterstützen, gesund und wirksam zu führen?

Corinne: Damit gesunde Führung im Alltag wirksam ist, braucht es Raum, Reflexion und Austausch. HR kann hier viel bewirken, nicht durch Kontrolle, sondern durch Begleitung. 

Hilfreich ist, wenn Personalverantwortliche den Dialog zwischen Führungskraft, Vorgesetzten und Team fördern, durch regelmässige Feedbackgespräche, Reflexionsformate oder kollegiale Austauschrunden. So entstehen Verständnis, gemeinsame Verantwortung und neue Perspektiven. 

Ebenso wichtig ist es, individuelle Entwicklungsprozesse zu ermöglichen. 

Führungskräfte profitieren von 1:1-Coachings, Peer-Programmen oder Massnahmen zur Selbstführung, die helfen, eigene Muster zu erkennen und gesund mit Druck, Erwartungen und Grenzen umzugehen. 

HR kann zudem Ressourcen sichtbar machen und entlastende Strukturen schaffen, etwa durch klare Zuständigkeiten, realistische Zielsysteme oder transparente Kommunikation in Veränderungsphasen. 

So entsteht ein Umfeld, in dem Führungskräfte Verantwortung tragen können, ohne sich darin zu verlieren. 

Gesunde und wirksame Führung entsteht nicht durch mehr Programme, sondern durch das bewusste Zusammenspiel von Selbstreflexion, struktureller Klarheit und vertrauensvollem Dialog – Bereiche, die HR aktiv gestaltet. Gesunde Führung wird selbstverständlich, wenn sie Teil der Kultur ist, nicht nur ein Programmpunkt.

Welche Rolle spielt HR, um Selbstfürsorge im Unternehmen als Stärke zu etablieren?

Corinne: Selbstfürsorge gehört in eine gesunde Führungskultur. Wenn Unternehmen ihre Leistungsfähigkeit langfristig sichern wollen, sollten sie die menschliche Seite der Arbeit in den Fokus rücken: Energie, Sinn, Erholung und Bewusstsein.

1. HR hat dabei eine Schlüsselrolle.

Indem es das Thema enttabuisiert und als Teil professioneller Führungskultur versteht, schafft HR Raum für offene Gespräche über Belastung, Grenzen und Ressourcen. Das stärkt psychologische Sicherheit – die Grundlage für Vertrauen, Dialog und gesunde Zusammenarbeit.

2. Zugleich hat HR eine wichtige Vorbildfunktion:

Durch einen bewussten Umgang mit den eigenen Ressourcen und durch Strukturen, die Pausen, Fokuszeiten und flexible Arbeitsgestaltung selbstverständlich machen, zeigt HR, dass Selbstfürsorge kein individueller Luxus ist und nichts mit Schwäche zu tun hat, sondern mit Verantwortung.

So wird Selbstfürsorge Schritt für Schritt zu einem kulturellen Wert, nicht als Wohlfühlmassnahme, sondern als Ausdruck professioneller Haltung. Sie stärkt die Resilienz des gesamten Systems, denn wer mit sich in guter Verbindung ist, führt klarer, kommuniziert bewusster und gestaltet ein gesundes Miteinander. Und genau das fällt vielen Führungskräften im Alltag schwer. 

Wie kann HR Druck von Führungskräften nehmen?

Corinne: Viele Führungskräfte glauben, alles im Griff zu haben – Abläufe, Ziele, Verantwortung. Was sie dabei oft übersehen: Funktionieren ist nicht dasselbe wie gesunde Selbstfürsorge. Wer nur auf Effizienz und Kontrolle setzt, verliert leicht den Kontakt zu sich selbst. 

Die sogenannten weichen Faktoren – Bewusstsein, Beziehungsgestaltung, Erholung und Sinn – sind in Wahrheit die Basis nachhaltiger Leistungsfähigkeit. Fehlen sie, zeigen sich früher oder später Konflikte, Erschöpfung oder der Verlust von Fokus und Freude – beruflich wie privat. 

Druck entsteht selten durch Arbeit allein, sondern durch Unklarheit, widersprüchliche Erwartungen oder fehlende Prioritäten. Führungskräfte bewegen sich heute in komplexen Rollen: Sie führen Menschen, treffen Entscheidungen und steuern Prozesse. Herausfordernd wird es, wenn Erwartungen unklar sind oder sich widersprechen. 

Hier kann HR entlasten, indem es Prioritäten klärt, Verantwortlichkeiten sichtbar macht und Raum für Reflexion schafft. So gewinnen Führungskräfte Handlungssicherheit und Orientierung zurück. 

Der Circle of Influence von Stephen Covey – bereits erwähnt – bietet dafür einen praktischen Ansatz: Er hilft, Energie auf den eigenen Wirkungsbereich zu lenken, statt sich in Sorgen und Fremdverantwortung zu verlieren. Diese Klarheit reduziert Druck spürbar und stärkt Stabilität – für die Führungskraft, das Team und das Unternehmen. 

Druck lässt sich nicht immer vermeiden, aber er lässt sich gemeinsam tragen – so bleibt Leistung möglich, ohne dass sie auf Kosten der Gesundheit geht.

Gibt es Frühwarnsignale, um Erschöpfung zu erkennen?

Corinne: Erschöpfung wächst schleichend. 

Wer genau hinschaut, erkennt sie früh, in kleinen, wiederkehrenden Veränderungen: häufige Überstunden, Rückzug, Perfektionismus, Schlafprobleme oder zunehmende Konflikte im Team sind deutliche Warnsignale. 

Wichtig ist, diese Anzeichen nicht zu bewerten, sondern zu verstehen. Hinter jedem Symptom steht ein Bedürfnis: nach Anerkennung, Orientierung oder Entlastung. 

Hilfreiche Instrumente sind Modelle wie die 12 Phasen des Burnouts nach Freudenberger oder eine einfache Energie-Skala: Auf einer Skala von 1 (sehr erschöpft) bis 10 (voller Energie) – wie viel Energie hast du im Moment? 

Diese Reflexion hilft, Veränderungen frühzeitig zu erkennen und mit Menschen ins Gespräch zu kommen, bevor Belastung chronisch wird.

Frühwarnsignale sind Einladungen hinzuschauen. Sie sollen nicht zu Kontrolle oder Bewertung führen, sondern zum bewussten Wahrnehmen und, wo nötig, zur gemeinsamen Klärung und Unterstützung. Wer Erschöpfung früh erkennt, schützt nicht nur Menschen, sondern auch die Leistungsfähigkeit des ganzen Systems.

Die 12 Phasen des Burnouts nach Freudenberger²

Welche drei Empfehlungen gibst du HR, um Führungskräfte und Teams nachhaltig zu stärken?

Corinne: Was HR konkret tun kann, geht weit über Prozesse und Richtlinien hinaus. 
Es geht darum, Kultur bewusst zu gestalten, Menschen zu stärken und Strukturen zu schaffen, in denen Führung überhaupt gesund wirken kann.

1. HR als Gestalterin von Vertrauen und Lernkultur 

Gesunde Zusammenarbeit entsteht, wo Vertrauen wächst und Austausch möglich ist. 

HR kann diese Kultur aktiv fördern, indem es Räume für Reflexion und kollegiale Unterstützung schafft, etwa in Form von Intervisionen oder Peer-Formaten, in denen Führungskräfte Erfahrungen teilen, sich gegenseitig spiegeln und voneinander lernen. 

Ebenso wichtig sind Gefässe für HR selbst: Orte, an denen es Unterstützung erhält, um Führungskräfte in ihrer Rolle wirksam begleiten zu können. 


2. HR als unabhängige, menschenorientierte Kraft im System 

In der Praxis ist HR häufig in Strukturen eingebettet, die diese Rolle erschweren, oft als Stabsstelle mit begrenzter Entscheidungskompetenz oder stark von der Geschäftsleitung abhängig. 

Damit HR wirksam handeln kann, braucht es eine eigenständige Position mit klarem Mandat und Handlungsspielraum, nicht als verlängerter Arm des Managements, sondern als Stimme für das Menschliche im Unternehmen. 

HR bringt Balance in Organisationen, wenn es Interessen ausgleicht, Perspektiven verbindet und so zu einem stabilisierenden Faktor zwischen Leistung und Gesundheit wird.

 

3. HR als reflektierte Coachin und systemische Mitgestalterin 

Wirksames HR beginnt bei sich selbst. 

Selbstführung, psychologische Grundkompetenzen und systemisches Denken sind Schlüssel, um Zusammenhänge zu erkennen, statt nur Symptome zu behandeln. 

Coachingkompetenz ermöglicht, durch Fragen zu führen statt durch Anweisungen, ganz im Sinne von ask, don’t tell. 

Gezielte Weiterbildungen in Selbstführung, Kommunikation und systemischem Denken stärken diese Rolle nachhaltig. 


Denn nachhaltige Entwicklung entsteht dort, wo HR nicht nur Strukturen verwaltet, sondern Bewusstsein und Kultur von innen heraus mitgestaltet – Inside-Out. Nachhaltige Stärkung entsteht, wenn Lernen, Reflexion und Menschlichkeit kein Zusatz, sondern Teil der Kultur sind. 

Gesunde Führung entsteht somit dort, wo Bewusstsein, Verantwortung und Menschlichkeit zusammenkommen – und HR den Raum schafft, in dem sie wachsen kann.


Vielen Dank, Corinne, für das spannende und lehrreiche Interview! 

Über Corinne Steiner:

Corinne Steiner steht für Leadership, das Wirkung zeigt – von innen nach aussen. Sie stärkt Selbstführung und Führungsbewusstsein und begleitet Führungskräfte dabei, ihre Rolle bewusst zu gestalten und darin wirksam und authentisch zu führen. Damit stärkt sie die Qualität von Zusammenarbeit und das Bewusstsein für eine gesunde, menschliche Arbeitskultur. 

Seit 2019 ist sie Inhaberin von Corinne Steiner Coaching & Training, einer Coaching- und Trainingspraxis, die Führung in all ihren Facetten stärkt – von der Selbstführung über die Mitarbeiter- und Gesprächsführung bis hin zur Lebensführung.

Zur Website corinnesteiner.com